Hinweis
Nach Erstellung der Studie wurden ambitioniertere Klimaziele beschlossen: bis 2045 soll Deutschland komplett klimaneutral werden. Die Stromversorgung muss also noch schneller auf erneuerbare Energien umgestellt werden als in den hier betrachteten Szenarien. Die ESYS-Arbeitsgruppe „Strommarkt der Zukunft“ hat 2022/23 untersucht, wie das Strommarktdesign im Rahmen dieser Umstellung angepasst werden könnte.
Neben der Stromversorgung müsen auch alle anderen Sektoren ihre Emissionen schnell und drastisch reduzieren. Vorschläge, wie das für den Mobilitätsbereich, Gebäudesektor und die Industrie gelingen kann, hat die ESYS-Arbeitsgruppe „Szenarien für eine klimaneutrale integrierte Energieversorgung und Produktion“ erarbeitet. Dabei spielt auch die Reduktion des Energieverbrauchs eine wichtige Rolle.
Die Verwendung von Strom beispielsweise in Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen schafft Möglichkeiten, Schwankungen in der Stromerzeugung auszugleichen, führt aber auch zu einem stark steigenden Strombedarf. Dieses Zusammenspiel von Strom-, Wärme- und Verkehrssektor wird als Sektorkopplung bezeichnet.
Neben Wind- und Solarstrom wird inländisch erzeugter und importierter Wasserstoff für eine klimaneutrale Energieversorgung eine wichtige Rolle spielen.
Schwer vermeidbare Restemissionen müssen durch negative Emissionen ausgeglichen werden – auch zu diesem Thema gibt es eine ESYS-Themenseite.
Ergebnisse im Überblick
In Kürze
- Fast keine Technologie ist alternativlos, fast jede lässt sich zu überschaubaren Mehrkosten ersetzen – sofern die Weichen rechtzeitig gestellt und Fehlinvestitionen vermieden werden.
- Gaskraftwerke sind in jedem Fall das stabilisierende Rückgrat des Energiesystems, um die Versorgung auch in mehrwöchigen wind- und sonnenarmen Phasen sicherzustellen. In Zukunft können sie nicht nur mit Erdgas, sondern auch mit Biogas, Wasserstoff oder synthetischem Methan befeuert werden.
- Kurzfristige Stromschwankungen lassen sich am kostengünstigsten ausgleichen, indem Haushalte und Industrie ihren Stromverbrauch stärker an das Angebot anpassen (Demand-Side-Management). Batterien von Elektroautos und in Gebäuden mit Photovoltaikanlagen werden in der Zukunft Standard sein und würden dann aufgeladen, wenn viel Strom zur Verfügung steht. Auch Wärmespeicher elektrischer Heizungen (Power-to-Heat) sowie Kühlschränke und Kühlhäuser bieten Pufferkapazität. Passen Großunternehmen ihren Energieverbrauch an aktuelle Strompreise an, müssen sie keinen teuren Strom zu Spitzenlastzeiten beziehen.
- Langzeitspeicher lohnen sich volkswirtschaftlich erst, wenn die Stromversorgung soweit auf erneuerbare Energie umgestellt ist, dass mehr als 80 Prozent CO2 eingespart werden. Bei weniger strengen Klimaschutzvorgaben ist es kostengünstiger, mehrwöchige „Dunkelflauten“ mit Erdgaskraftwerken zu überbrücken. Überschüssiger Strom aus Wind- und Photovoltaikanlagen wird dann in den Wärmemarkt gegeben oder abgeregelt.
Methode
Mehr als 100 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft haben in der AG unter Leitung von Peter Elsner, Dirk Uwe Sauer und Manfred Fischedick mitgewirkt. Sie haben die einzelnen Flexibilitätstechnologien bewertet und deren Entwicklungspotenziale bis zum Jahr 2050 sowie die voraussichtlichen Kosten abgeschätzt. Die Szenarien-Fachleute aus der Gruppe haben aus bereits vorhandenen Energieszenarien mit unterschiedlichem Strombedarf und Anteilen von Wind- und Solarstrom acht beispielhafte Szenarien ausgewählt, die die verschiedenen Optionen für 2050 gut darstellen. Für diese Szenarien haben sie die stündliche Residuallast berechnet.
Die Daten bildeten die Grundlage für Modellrechnungen: Auf Basis der ermittelten Residuallast wurde das Portfolio der erforderlichen Flexibilitätstechnologien so berechnet, dass die jährlichen Gesamtkosten der Stromerzeugung möglichst gering sind.
Insgesamt hat die Arbeitsgruppe rund 130 mögliche Konstellationen des Stromsystems berechnet. Ihnen liegen jeweils unterschiedliche Annahmen zu den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugrunde, darunter unterschiedliche CO2-Einsparziele, Vorzüge für bestimmte Technologien und geopolitische Risiken.
Residuallast
Damit die Netzspannung stabil bleibt, müssen Stromerzeugung und Verbrauch jederzeit ausgeglichen sein. Die zentrale Größe für den Flexibilitätsbedarf eines Stromsystems ist die Residuallast. Sie beschreibt die Differenz zwischen der (schwankenden) Stromerzeugung aus Wind und Sonne und der Stromnachfrage.
Ist die Residuallast positiv, reichen Wind- und Photovoltaikstrom nicht aus, um die Nachfrage zu decken. Dann muss entweder zusätzlich Strom aus regelbaren Kraftwerken oder Speichern bereitgestellt werden oder man reduziert den Bedarf, indem man flexible Verbraucher abschaltet (Demand-Side-Management). Dazu zählen zum Beispiel Batterien von Elektroautos und Photovoltaikanlagen oder Elektroheizungen mit Wärmespeichern. Sie können ihren Strombedarf zeitlich verschieben, weil sie über entsprechende Speicherkapazitäten verfügen.
Bei negativer Residuallast wird mehr Strom produziert als nachgefragt wird. Die Überschüsse können genutzt werden, um Speicher aufzufüllen, flexible Verbraucher zu betreiben oder um Strom in andere Energieformen (zum Beispiel Wärme) oder Energieträger (zum Beispiel Gas) umzuwandeln. Alternativ können die Kapazitäten einzelner Windkraft- oder Photovoltaikanlagen zurückgefahren oder ganz abgeschaltet werden.
Gaskraftwerke
Flexibilitätstechnologien müssen die schwankende Einspeisung aus Wind und Photovoltaik ausgleichen. Gasturbinen- sowie Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerke sind gut regelbar und ergänzen daher die schwankende Einspeisung. Sie stabilisieren künftig das System und sorgen für eine zuverlässige Stromversorgung, auch wenn über mehrere Wochen wenig Strom aus Windkraft- und Solaranlagen erzeugt wird.
Je nachdem, wie viel Kohlendioxid zum betrachteten Zeitpunkt eingespart werden soll und wie hoch der Anteil erneuerbarer Energien ist, werden diese Kraftwerke mit Erdgas, Biogas, Wasserstoff oder synthetischem Methan betrieben. Sind die Anlagen mit variabler Gasfeuerung ausgelegt, ermöglichen sie eine schrittweise Umstellung auf erneuerbare Brennstoffe.
EE-Anteil
Bei einem hohen Wind- und Photovoltaikanteil von 80 bis 95 Prozent kann der verbleibende Strombedarf durch Bioenergie abgedeckt werden. Hierzu müsste man allerdings fast doppelt so viel Biogas einsetzen wie heute. Wie viel Biomasse überhaupt für den Stromsektor zur Verfügung steht, kann nur im Rahmen einer nationalen Biomassestrategie entschieden werden. Sie muss sowohl Nutzungskonkurrenzen als auch ökologische und soziale Folgen des Anbaus berücksichtigen. Eine ESYS-Arbeitsgruppe hat untersucht, welche Strategien es für eine nachhaltige Nutzung von Biomasse im Energiesystem gibt.
Alternativ könnten deutlich mehr Wind- und Photovoltaikanlagen installiert werden als rechnerisch notwendig sind, um den Strombedarf zu decken (Überinstallation). Zusammen mit Elektrolyseanlagen und großen Gasspeichern, mit denen Strom für mehrwöchige Dunkelflauten eingespeichert werden kann, ließe sich der Biogasanteil im Vergleich zu heute halbieren. In besonders wind- und sonnenreichen Zeiten würden die zusätzlichen Wind- und Photovoltaikanlagen abgeregelt.
Bei einem niedrigen Anteil an Wind und Photovoltaik könnten ergänzend solarthermische Kraftwerke mit integrierten Wärmespeichern eingesetzt werden. Sie lohnen sich jedoch nur in sonnenreichen Regionen wie Südeuropa oder Nordafrika. Für den Stromtransport nach Deutschland müssten die transeuropäischen Netze stark ausgebaut werden. Eine weitere Voraussetzung: Die politisch-rechtlichen Bedingungen sowohl in den Erzeugerländern als auch in den „Transitstaaten“ sind so stabil, dass der Stromtransport jederzeit zuverlässig und sicher ist.
Solange noch geringe Restemissionen erlaubt sind, kann der zusätzliche Energiebedarf am kostengünstigsten durch Erdgaskraftwerke gedeckt werden. Ohne Erdgas und Solarthermie könnte die Geothermie diese Lücke schließen. Sie ist für die Stromerzeugung jedoch verhältnismäßig teuer und eignet sich daher eher zur Wärmeversorgung.
(de)zentral?
Durch den Einsatz erneuerbarer Energien wandelt sich das Stromsystem von einem zentralen System, in dem Strom in Großkraftwerken produziert wird, immer stärker zu einer dezentral geprägten Energieversorgung: Viele kleine, dezentrale Erzeugungseinheiten – zum Beispiel Windkraft- und Photovoltaikanlagen – speisen Strom ins Netz ein und ergänzen die zentralen Technologien.
Systeme mit starkem Übertragungsnetzausbau sowie einer Mischung aus zentralen und dezentralen Technologien sind in aller Regel günstiger als rein dezentrale Systeme. Die Mehrkosten eines dezentralen Stromsystems liegen umso höher, je niedriger der Wind- und Photovoltaikanteil ist. Möchte man den Ausbau der Übertragungsnetze gering halten, empfiehlt es sich daher, in allen Teilen Deutschlands, vor allem in der Nähe von Ballungsgebieten und Verbrauchszentren, viele Wind- und Photovoltaikanlagen zu errichten.
Umfragen zeigen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger kleine, dezentrale Anlagen gegenüber zentralen Systemen bevorzugen. Darüber hinaus stößt der Netzausbau teilweise auf Widerstand. Bei der Entscheidung für eine zentrale oder dezentrale Architektur der Stromversorgung müssen daher auch die Präferenzen der Bevölkerung berücksichtigt werden.
Speicher
Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der zahlreichen Speichertechnologien ist die Dauer, für die Energie aufgenommen oder abgegeben werden kann. Als Kurzzeitspeicher zur Überbrückung weniger Stunden können Pump- und Druckluftspeicher sowie Batterien dienen. Wesentlich kostengünstiger wäre jedoch das Demand-Side-Management (DSM), das heißt die gezielte Steuerung der Stromnachfrage in Haushalten oder Industrieunternehmen. Bis Mitte des Jahrhunderts dürfte es so viele Photovoltaik- und Elektrofahrzeug-Batterien, elektrische Heiz- und Warmwassersysteme mit thermischen Speichern sowie steuerbare Haushaltsgeräte geben, dass sie den gesamten Kurzzeitspeicherbedarf abdecken könnten. Die Herausforderung: DSM funktioniert nur, wenn flächendeckend intelligente Steuerungstechnik zur „Fernsteuerung“ der Geräte in Haushalten und Unternehmen installiert ist und die Verbraucher diese Steuerungseingriffe auch akzeptieren.
Mehrwöchige wind- und sonnenarme Phasen („Dunkelflauten“) lassen sich technisch sowohl mithilfe von Langzeitspeichern als auch flexiblen Erzeugern wie Gaskraftwerken überbrücken. Für die Langzeitspeicherung muss Strom in Wasserstoff oder Methan umgewandelt werden (Power-to-Gas), das später in Kraftwerken rückverstromt wird.
Der Einsatz von Langzeitspeichern lohnt sich erst, wenn mehr als 80 Prozent CO2 eingespart werden sollen. Bis dahin ist es günstiger, den Überschussstrom dem Wärmemarkt zur Verfügung zu stellen und bis zu zehn Prozent abzuregeln. Gibt es genügend Windkraft- und Photovoltaikanlagen, können Langzeitspeicher jedoch auch genutzt werden, um die Stromversorgung unabhängiger vom Erdgasimport zu machen.
Überschussstrom
Mit Power-to-Heat kann überschüssiger Strom aus erneuerbaren Energien preiswert zum Heizen eingesetzt werden. Dazu werden in den Warmwassertanks klassischer Heizsysteme Tauchsieder installiert. Sie erhitzen das Wasser, wenn die Sonne scheint und der Wind weht.
Mit Strom energiehaltige Gase zu erzeugen (Power-to-Gas), ist verhältnismäßig teuer. Es lohnt sich erst, wenn es so viele Wind- und Photovoltaikanlagen gibt, dass sie auch den Wärme- und Verkehrssektor mit erneuerbaren Energien versorgen können. Denn die Investitionskosten der Elektrolyseure und Methanisierungsanlagen sind so hoch, dass der Betrieb nur bei einer hohen Auslastung wirtschaftlich ist.