Helfen oder schaden Energieimporte der Energiewende?

© Audi AG

Damit Deutschland seine Klimaziele schaffen kann, muss sich die Leistung aus Wind- und Solarenergie vervielfachen. Doch die heimischen Potenziale sind begrenzt. Regenerativ erzeugte Energieträger aus wind- und sonnenreichen Regionen zu importieren, könnte eine Lösung sein. Sollte Deutschland also auf Energieimporte setzen? Jochen Kreusel (ABB) findet, diese Option wird bisher unterschätzt, weil sie dem Wunsch nach Energieautarkie widerspricht. Dabei könne Energie sowohl über das elektrische Verbundnetz als auch in Form von gasförmigen oder flüssigen Energieträgern eingeführt werden. Damit keine fossile Energie eingespeist wird, müsse strikt geprüft werden, dass alle Importe CO2-frei sind. Justus Andreas (Bellona) ist der Ansicht, synthetische Gase und Kraftstoffe eignen sich nicht als Übergangslösung in die Wasserstoffwirtschaft. Bevor Deutschland Power-to-X aus Regionen wie Nahost, Nordafrika oder Australien importiert, sollten diese Länder ihr Erneuerbaren-Potenzial nutzen, um ihre eigenen CO2-Emissionen senken. Und Deutschland wäre gut beraten, sich auf die Nutzung von Wasserstoff und die Direktelektrifizierung zu konzentrieren.


Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des jeweiligen Autors wieder.


„Ist die Energiewende eine Chance für Energieautarkie?“


Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist die Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten durch den Auslauf der deutschen Steinkohleförderung, die Verdrängung von Kohle im Wärmemarkt durch Heizöl und Gas sowie die Zunahme des Verkehrs immer weiter gestiegen. Nur der Ausbau der erneuerbaren Energien, vorrangig in der elektrischen Energieversorgung, wirkt diesem Trend entgegen. Im Jahr 2017 lag der Importanteil der deutschen Energieversorgung bei fast 75 Prozent (Umweltbundesamt). Mineralöl und Erdgas stellten mit 35 Prozent und 24 Prozent die größten Anteile, und in beiden Fällen gibt es dominante Herkunftsländer oder -regionen, was prinzipiell zu einer starken Abhängigkeit führt.

Auf der anderen Seite war der Ausbau erneuerbarer Energien von Anfang an mit der Vorstellung ver­bunden, damit eine dezentrale Energieversorgung zu ermöglichen, bei der Strom nahezu unabhängig von bestehenden Infrastrukturen vor Ort gewonnen wird. Diese Erwartung findet sich bis heute in der Diskussion über den Netzausbaubedarf, obwohl angesichts der starken Konzentration von Windenergie in Nord­deutschland die Notwendigkeit der Vernetzung zumindest auf nationaler Ebene inzwischen meist anerkannt wird. Der Wunsch nach Autarkie besteht aber weiterhin: In vielen Publikationen werden die Bereitstellung von Energie oder der saisonale Ausgleich von Angebot und Nachfrage ausschließlich auf nationaler Ebene diskutiert. Energieimporte werden dabei häufig höchstens als „notwendiges Übel“ dargestellt, aber nicht als gleichwertiger Bestandteil der Handlungsoptionen.

Sollte und kann Deutschland energieautark werden?

Die beiden Positionen – die aktuelle Situation und das Wunschdenken für das Ende der Transformation der Energieversorgung – liegen also extrem weit auseinander. Es stellt sich deshalb die Frage, ob eine völlige Energieautarkie auf nationaler Ebene eine erstrebenswerte und realistische Option ist. Beginnen wir mit dem einfachen Teil der Antwort: Energieautarkie hätte den unbestreitbaren Vorteil der Unabhängigkeit bei einem für die Volkswirtschaft eminent wichtigen Thema. Aber ist sie auch realistisch?

© ABB

  • Jochen Kreusel
  • ABB

Der Elektrotechniker ist verantwortlich für Marktinnovation des Geschäftsbereichs Power Grids beim Energie- und Automatisierungstechnikkonzern ABB in Mannheim und lehrt „Energiewirtschaft in liberalisierten Elektrizitätsmärkten“ an der RWTH Aachen. Im Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ wirkt er in den Arbeitsgruppen „(De-)zentrale Energieversorgung“ und „Resilienz digitalisierter Energiesysteme“ mit.

Betrachten wir zunächst das heutige System der elektrischen Energieversorgung. Der weitere Weg seiner Dekarbonisierung ruht auf den Säulen Wind- und Solarenergie. Deutschland hat im Jahr 2018 über 40 Prozent seines elektrischen Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen gedeckt – das klingt bemerkenswert und ist es natürlich auch. Allerdings stammten von diesen über 40 Prozent nur knapp drei Viertel, also 30 Prozent, aus Sonnen- und Windenergie, welche aber die verbleibende Lücke decken sollen. Allein der dafür erforderliche Zubau eines Mehrfachen der bereits installierten Leistung von Wind- und Solarenergie ist schwer vorstellbar. Bereits heute nimmt der Widerstand gegen neue Windenergieanlagen deutlich zu, realistischerweise erschließbare neue Standorte mit gutem Primärenergiedargebot werden knapp. Und bisher haben wir nur den Elektrizitäts­sektor betrachtet, der aber nur rund 20 Prozent des gesamten Energiebedarfs in Deutschland repräsentiert. Die gesamte noch vor uns liegende Aufgabe ist also viel größer als der Blick auf die elektrische Energieversorgung suggeriert, und es ist nicht plausibel, dass die noch vorhandene Lücke mit heimischer Produktion geschlossen werden kann.

Vor- und Nachteile von Energieimporten

Importe können dabei entweder über das elektrische Verbundnetz erfolgen, das dafür möglicherweise auch ausgeweitet wird, oder in Form gasförmiger oder flüssiger Energieträger (Power-to-X), die in geeig­neten Regio­nen aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden.  Geeignete Regionen sind dabei solche, die über ausreichend Fläche mit günstigem, also möglichst gleichmäßigem Primär­energie­dar­gebot verfügen und so eine hohe Auslastung der kapitalintensiven Power-to-X-Anlagen erzielen kön­nen. Beide Voraussetzungen sind in Deutschland nicht gegeben: Zunächst haben wir zu wenig freie Fläche, um zusätzlich zur direkten Gewinnung elektrischer Energie noch Energie für die verlust­behaf­tete Umwandlung bereitzustellen. Außerdem würde die Nutzung von Einspeiseüberschüssen zu einer schlechten Auslastung der Power-to-X-Anlagen führen, was selbst bei deutlichen Kosten­senkungen im Umwandlungsprozess immer noch zu teuer wäre.

Neben der kostengünstigen Transportierbarkeit haben gasförmige oder flüssige Energieträger den Vor­teil, dass sie wegen ihrer hohen Energiedichte gut speicherbar sind und so helfen können, das Problem jahreszeitlicher Schwankungen des Dargebots erneuerbarer Energien zu lösen. Außerdem können sie als synthetische Kraftstoffe auch in den Teilen des Energiesystems eingesetzt wer­den, in denen eine Elektrifizierung nicht sinnvoll oder möglich ist, beispielsweise beim Fliegen.

Der Import von Energie birgt allerdings zwei Risiken: Zum einen die bereits erwähnte Abhängigkeit und zum anderen die Möglichkeit, auf diesem Weg erneut fossile Energie ins System einzuspeisen und so die lokalen Dekarbonisierungsanstrengungen zu konterkarieren. Angesichts des hohen noch vor uns liegenden Bedarfs emissionsfreier Energie kann die Konsequenz allerdings wohl kaum sein, Importe auszuschließen. Vielmehr muss man sich rechtzeitig mit den Risiken auseinander­setzen. Dabei ist die Abhängigkeit von anderen Staaten bei einem globalen Markt grüner Energien mit vielen Anbietern wahrscheinlich unkritisch. Das Problem des ungewollten Imports von Kohlendioxid-Emissionen muss dagegen aktiv bearbeitet werden. Die Anforderungen an die CO2-Freiheit von importierter Energie müssen genauso strikt sein wie sie es für die heimische Produktion sind.

„Vom Nutzen und Nachteil von PtX für die deutsche Energiewende“


Unter dem Namen und damit verbundenen Prozessen von Power-to-X (PtX) verbergen sich unterschiedliche Produkte: von grünem Wasserstoff, der per Elektrolyse mit erneuerbaren Energien (EE) produziert und hier zur Abgrenzung mit Power-to-H2 (PtH2) abgekürzt wird, zu dessen karbonisierten Derivaten wie synthetischen Gasen (Power-to-Gas, PtG) und Kraftstoffen (Power-to-Liquids, PtL). Wasserstoff kann dank seiner flexiblen Einsatzfähigkeit und seiner CO2-freien Verbrennung viele Rollen übernehmen, die derzeit von fossilen Energieträgern abgedeckt werden. PtG und PtL gelten hier als Übergangslösung zur schnelleren Markteinführung, da sie in bestehenden Infrastrukturen einsetzbar sind. Durch den Extraschritt der CO2-Zuführung entstehen jedoch entscheidende kommerzielle und klimatische Nachteile.

PtX ist grundsätzlich energieintensiv und jeder Umwandlungsschritt mit Energieverlusten verbunden. Emissionen, die in der Stromproduktion für den Prozess ausgestoßen werden, sind deshalb kritisch. In Deutschland bringt eine PtX-Produktion keinen klimatischen Mehrwert im Gegenteil. Die untenstehende Abbildung zeigt Deutschlands Netzemissionen auf Basis des geplanten EE-Ausbaus mit den jeweiligen Breakeven von PtH2 bei 170g CO2 pro Kilowattstunde und PtG und PtL bei 90-100g CO2 pro Kilowattstunde.

Damit PtH2 einen Klimavorteil gegenüber fossilen Energieträgern bringt, muss das deutsche Stromnetz also schon größtenteils dekarbonisiert sein. Für synthetische Gase und Kraftstoffe wäre eine nahezu CO2-freie Stromerzeugung notwendig. Auch Herkunftsgarantien können hiervon nicht ablenken, denn Netzstrom ist immer grau. Durch den stockenden EE-Ausbau bei gleichzeitig wachsender Stromnachfrage durch Elektrifizierung von Transport und Wärme wird erneuerbarer Strom jedoch Mangelware bleiben. EE-Anlagen, die allein zur Elektrolyse genutzt werden, würden die Energiewende also verlängern, da der extra installierte Strom an anderer Stelle fehlt. Überschussstrom zu nutzen, der durch den ebenfalls stockenden Netzausbau noch existiert, ist technisch und kommerziell fragwürdig und enorm subventionslastig.

© Bellona Foundation

  • Justus Andreas
  • Bellona Foundation

Der Politikwissenschaftler arbeitet im Brüsseler Büro der Umweltorganisation Bellona an Maßnahmen, Instrumenten und Rahmenbedingungen zur Industriedekarbonisierung. Im Projekt ESYS war er am Trialog zur Bioenergiestrategie beteiligt und hat beim acatech Projekt „CCU und CCS – Bausteine für den Klimaschutz in der Industrie“ mitgewirkt.

Zumindest für PtG und PtL-Produkte, die das beigefügte Kohlendioxid wieder emittieren, ist auch die Quelle des CO2 entscheidend. Denn um zumindest theoretisch einen geschlossenen CO2-Kreislauf im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen zu ermöglichen, muss das genutzte CO2 atmosphärischen Ursprungs sein. Zwar wäre eine CO2-Einsparung von 50 Prozent durch die doppelte Nutzung von fossilem CO2 aus Industrieprozessen momentan attraktiv. Jedoch gibt es derzeit keinen emissionsfreien Strom, der dies ermöglicht. Bis dieser Mitte des Jahrhunderts ansatzweise zur Verfügung steht, sind 50 Prozent nicht ausreichend. Auch gibt es durch die CO2-Speicherung in unterirdischen Gesteinsschichten eine Alternative für Industrieemissionen, die verhindert, dass CO2 wieder in die Atmosphäre gelangt. In Ermangelung ausreichender Mengen nachhaltiger Biomasse kommt für synthetische Gase und Kraftstoffe also hinzu, dass auch Direct Air Capture zum Einsatz kommen müsste, was den notwendigen Energieeinsatz – und somit auch den Kostenfaktor – weiter steigen ließe.

Globaler Handel mit Power-to-X

Das größte Potenzial von PtX liegt daher darin, erneuerbaren Strom aus Regionen mit viel Wind und Sonne global zu handeln. Synthetische Gase und Kraftstoffe werden hier als potenzielle Wasserstoffträger gesehen. Dabei existieren effizientere und CO2-freie Alternativen, zum Beispiel flüssiger Wasserstoff oder Ammoniak. Es ist wesentlich einfacher Stickstoff – mit 78 Prozent größter Bestandteil der Luft – für die Ammoniaksynthese aus der Atmosphäre zu filtern als CO2 (nur 0,04 Prozent).

Jedoch ist auch eine großflächige PtX-Produktion in Regionen wie Nahost und Nordafrika oder Australien problematisch. Diese Länder könnten ebenso erstmal ihr eigenes Stromnetz dekarbonisieren: Australiens Netzemissionen sind derzeit doppelt so hoch wie Deutschlands, während Ägypten plant, das zweitgrößte Kohlekraftwerk der Welt zu bauen. Gleichzeitig stellt sich vor dem Hintergrund der Erfahrung mit OPEC-Staaten die Frage der Sozialverträglichkeit einer auf flüssigen Energieträgern basierten Wirtschaft. Denn das vorhandene Potenzial an erneuerbaren Energien könnte auch anders zu gesamtwirtschaftlichen Entwicklung genutzt werden. Sie schaffen zum Beispiel einen Standortvorteil für energieintensive Industrien, die in den nächsten Jahren Investitionsentscheidungen in neue Prozesse und Anlagen treffen müssen. Günstiger Strom und direkter Zugang zu preiswertem Wasserstoff können hier eine entscheidende Rolle spielen.

Da also eine großflächige PtX-Produktion auch in diesen Regionen in naher Zukunft fragwürdig ist, verpuffen beim verlängerten Zeitrahmen der Markteinführung von vermutlich einigen Jahrzehnten Notwendigkeit und Nutzen von synthetischen Gasen und Kraftstoffen. Aus Effizienz- und Klimagründen sollte Deutschland damit den Fokus sofort auf die Direktelektrifizierung und die Nutzung von Wasserstoff legen und relevante Infrastrukturen schnellstmöglich bereitstellen. Gleichzeitig wird grüner Wasserstoff kaum die hohe Nachfrage in einer Paris-konformen Gesellschaft zeitnah abdecken können. Um eine Hochskalierung und eine erhöhte Versorgungssichert zu erreichen, müssen auch andere Pfade der emissionsfreien Wasserstoffherstellung vorangebracht werden, zum Beispiel die Verbindung der Dampfreformierung, die derzeit ungefähr die Hälfte der globalen Wasserstoffherstellung abdeckt, mit Carbon Capture und Storage (CCS).

 

ESYS-Debatte | Oktober 2019