Was bedeutet der Ukraine-Krieg für die deutsche Versorgungssicherheit?

27. April 2022

Noch ist Russland Deutschlands wichtigster Lieferant für fossile Energieträger. Besonders beim Gasimport gibt es kaum kurzfristig abrufbare Alternativen. Aber auch Kohle und Erdöl werden in großen Mengen aus Russland bezogen. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat gezeigt, wie gefährlich Abhängigkeit von einem Land für die Versorgungssicherheit sein kann. Die Energiewende voranzutreiben ist deshalb nicht nur aus Sicht des Klimaschutzes unabdingbar, sondern hat auch eine geopolitische Dimension.

In einem ESYS Deep-Dive am 31.3. diskutierten Expert*innen gemeinsam mit dem Publikum die kurz- und mittelfristigen Perspektiven für die Energieversorgung Deutschlands sowie mögliche Folgen eines Energie-Embargos. Fragen von Sicherheit, Resilienz und Digitalisierung rückten gerade vor diesem aktuellen Hintergrund stärker ins Bewusstsein, erläuterte acatech-Präsident Jan Wörner zu Veranstaltungsbeginn. Es sei deshalb höchste Zeit nun darüber nachzudenken, wie die Energieversorgung in Europa heute und in den nächsten Jahren gestaltet werden kann.

Infrastrukturabhängigkeiten und große Importmengen erschweren Alternativen

Die Vorträge von Almut Kirchner, Direktorin und Energiesystemexpertin bei der Prognos AG, und Marc Oliver Bettzüge, Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des EWI an der Universität zu Köln, zeigten, welche immensen Herausforderungen kurzfristig, aber auch auf längere Sicht auf uns zukommen. Aktuell wird der deutsche Energiebedarf noch zu 78 % durch fossile Energieträger gedeckt – fast alles davon wird importiert, ein großer Teil davon aus Russland. Ein Anstieg der Energiepreise sei auch mittel- und langfristig unvermeidlich, schaffe aber auch Anreize für Energiesparen und den Ausbau der Erneuerbaren Energien.

Während der Weltmarkt bei Kohle Alternativen bereithält, ist es schwierig, russisches Erdgas zu ersetzen. So müssten für Alternativen wie LNG erst eigene Infrastrukturen aufgebaut werden, weshalb ein sofortiger Wechsel auf andere Importe nicht möglich ist. Gerade mittelfristig, also für den Winter 2022/2023, sind deshalb Verteilungskonflikte zwischen Haushalten und der Industrie zu erwarten. Die bisherige Strategie, im Zuge der Energiewende übergangsweise Kohle durch das klimafreundlichere Erdgas zu ersetzen, sei unter diesen Vorzeichen wegen potenziell begrenzter Verfügbarkeiten und steigender Preise von Erdgas neu zu bewerten, bemerkte Almut Kirchner. Bei Erdöl sei aufgrund fehlender Pipelinekapazitäten sehr wahrscheinlich insbesondere die Versorgung Ostdeutschlands problematisch – zumindest zeitweise, bis entsprechende alternative Routen und Transportoptionen stehen.

Ein weltweiter Preisanstieg bei Energieträgern sei bereits vor dem Ausbruch des Krieges zu sehen gewesen, so Marc Oliver Bettzüge. Ein Kriegsende würde also nicht zwangsläufig eine Rückkehr zu den alten Energieträgerpreisen bedeuten. Frühere Ölpreiskrisen seien unter anderem durch den starken Ausbau von Fördermengen in westlichen Staaten überwunden worden, auch, weil damit die Marktmacht bestimmter nicht-westlicher Akteure begrenzt werden konnte. Ob ein solcher Mechanismus auch in der aktuellen Krise erneut zur Verfügung stehe, sei zumindest zweifelhaft.

Mit Blick auf die Diskussion über ein Energie-Embargo betonte der Volkswirt: „Wir sollten die Auswirkungen eines Embargos auf die Kriegsführung Russlands nicht überschätzen und auf die Volkswirtschaft in unserem eigenen Land nicht unterschätzen.“ Besonders wegfallende Exporte von Erdöl nach Europa könne Russland weitgehend über den Seeweg auf andere Käufer umlenken, auch wenn dabei Preisabschläge in Kauf genommen werden müssten. Bei den Lieferungen von Erdöl und Erdgas über Rohrleitungen sei es sowohl für den Exporteur als auch für den Importeur schwieriger, Ausfälle kurzfristig zu kompensieren. Es sei nicht offensichtlich, welche der beiden Seiten härter von den Konsequenzen eines Embargos getroffen werden würde. Bei der Interpretation entsprechender Modellrechnungen zu den volkswirtschaftlichen Implikationen für Deutschland müssten die jeweils getroffenen Annahmen und Modellgrenzen sorgfältig bedacht werden.  

Anreize für Verbrauchsreduktionen und Diskussionen um Abschaltlisten

Andreas Löschel, Professor für Umwelt- und Ressourcenökonomik an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied des ESYS-Kuratoriums, stellte in seinem Impuls die Auswirkungen verschiedener Sanktionsmaßnahmen auf die deutsche Wirtschaftsleistung vor. Der Ökonom betonte, dass die Politik die verbleibenden Monate vor Eintritt des nächsten Winters unbedingt nutzen müsse, um den Erdgasverbrauch zu reduzieren. Nur so ließen sich die schädlichen Auswirkungen eines möglichen Importstopps einhegen. Hierfür müsse die Nachfrage aktiv gesenkt werden, da nach seiner Einschätzung reine Apelle nicht den gewünschten Effekt hätten. Haushalte wie auch Unternehmen bräuchten Anreize, um ihren Energieverbrauch zu mindern. Zugleich sollten aus seiner Sicht Vorbereitungen auf ein potenzielles Embargo weiterlaufen, dessen Konsequenzen der Staat abfangen müsste.

Carsten Rolle, Abteilungsleiter Energie- und Klimapolitik beim Bundesverband der deutschen Industrie e.V., bewertete Diskussionen um eine vorgegebene Abschaltreihenfolge verschiedener Industrieprozesse kritisch. Gas sei nach wie vor Energieträger Nummer 1 in der Industrie und unverzichtbar in verschiedenen Prozessen und Wertschöpfungsketten. Die Verflechtungen innerhalb der Industrie seien zu komplex, um alle Zusammenhänge zur Genüge überblicken zu können. Deshalb sei es zielführender, Flexibilität über Marktmechanismen abzurufen. Mit Sorge betrachtet er, dass die Erdgaspreise in Deutschland auch langfristig hoch bleiben werden, da sie zukünftig durch den LNG-Preis bestimmt werden. Dies sei ein großes Problem für Deutschland als Industriestandort. Zudem warnte er vor den drastischen Folgen, die ein Gasembargo für die Industrie hätte.

Window of Opportunity?

In der Diskussion spiegelte sich die Vielschichtigkeit der aktuellen Situation: Offene Fragen zum Verhältnis des Westens zu Russland treten jetzt ebenso in den Vordergrund wie Hemmnisse der Energiewende. Der zu langsame Ausbau der Erneuerbaren, ein zögerlicher Netzausbau und zu geringe Fortschritte bei der Energieeffizienz engen nun, da die Abhängigkeiten von einem einzelnen Energiepartner so offensichtlich werden, den Handlungsspielraum ein. Auch wenn der Wille zu mehr Strom aus Wind und Sonne da ist, können nicht von heute auf morgen ausreichend Kapazitäten aufgebaut werden, um sich von Energieimporten aus Russland lösen zu können.

Diese unglückliche Ausgangssituation als ein Window of Opportunity zu begreifen und gut aufeinander abgestimmte kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zu initiieren, mit denen gleichermaßen die Energiewende beschleunigt und als Grundlage für eine robustere Versorgung ausgestaltet wird, ist die schwierige Aufgabe, die die Regierung nun zu lösen hat.

 

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