Copyright: Bettina Ausserhofer

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Zeitenwende Energieversorgung – ESYS-Jahresveranstaltung 2022

10. Juni 2022

Überschwemmungen in Deutschland, Hitzewellen in Indien: Was lange Zeit eine abstrakte Idee war, geht immer mehr ins konkrete Erleben über. Zugleich steigt im Lichte des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine das Bewusstsein für geopolitische Abhängigkeiten in der Energieversorgung. Und die Zeitmarken, die sich die Weltgemeinschaft zur Dekarbonisierung gesetzt hat, rücken näher. Die diesjährige ESYS-Jahresveranstaltung stand ganz im Zeichen der sich aktuell abzeichnenden Zeitenwende in der Energieversorgung, in der vieles Realität werden muss, was bisher vor allem diskutiert wurde.

Den großen Wert, den Wissenschaft und wissenschaftsbasierte Politikberatung in diesem Transformationsprozess haben, betonte direkt zu Beginn der Veranstaltung die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, in einer Grußbotschaft per Video. ESYS – ein gemeinsames Projekt von acatech, Leopoldina und Akademienunion – verfolge mit seinem unabhängigen, interdisziplinären Ansatz und dem klaren Fokus auf Handlungsoptionen einen einzigartigen Ansatz, der dabei helfe, die Energiewende politisch zu gestalten.

Mehr als eine technische Transformation

In der anschließenden Keynote „Der Weg zu einer verlässlichen und klimaneutralen Energieversorgung in Deutschland und Europa“ beschrieb Mario Ragwitz (Fraunhofer Institut für Energieinfrastrukturen und Geothermie) Herausforderungen, Chancen und Risiken der anstehenden Jahre: Verfehlte Reduktionsziele müssen kompensiert und Infrastrukturen massiv ausgebaut werden. Zugleich dürfe der Transformationsprozess nicht nur als technische Entwicklung begriffen werden, sondern auch als gesellschaftlicher Wandel, der politischer Förderung und Moderation bedarf.
Diese bereits großen Herausforderungen werden nun flankiert von der Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen: Während der Wegfall russischer Energieimporte einerseits einen Antrieb liefere, erneuerbare Energie schneller auszubauen, führe er andererseits zu einer Unsicherheit in Bezug auf Erdgas als Brückentechnologie. (Zur Präsentation)

Sieg nach Punkten oder K.O-Sieg?

Weitere Aspekte, die über die Fragen reiner technischer Machbarkeit hinausgingen, diskutierte Munib Amin (E.ON, Research & Technology) in seiner Keynote „Sieg nach Punkten: Nicht schön – aber nachhaltig“. Er schilderte die Schwierigkeiten, etwas zu ändern, worauf letztlich unsere Wirtschaft fußt. Zudem beobachtete er ein Missverhältnis zwischen dem Zeitdruck, dem die Weltgemeinschaft unterliegt, und der Geschwindigkeit, mit der Maßnahmen umgesetzt werden. Anstatt sich auf 100%-Lösungen zu fixieren und das Perfekte zu verfolgen, könnte ein Ansatz, der auf ein „better than nothing“ zielt, bereits viel erreichen. Aktuell sei es wichtig, mit überschaubarem Aufwand schnell weiterzukommen, und alle Optionen auszuschöpfen, auf die man zugreifen könne – also nicht einen K.O-Sieg anzupeilen, sondern einen Sieg nach Punkten. (Zur Präsentation)

Energiewende als ein gesamtheitlicher und globaler Prozess

In der ersten Podiumsdiskussion diskutierten Gäste aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Fragen im Spannungsfeld zwischen Klimaneutralität und Versorgungssicherheit. Mit dabei waren Manfred Fischedick (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und ESYS-Direktorium), Ellen Matthies (Otto-von-Guericke-Universität und ESYS-Direktorium), Lukas Köhler MdB (FDP), Julia Verlinden MdB (Bündnis 90/die Grünen) und Klaus Schäfer (Covestro). Auch in diesem Gespräch wurde deutlich: Energiewende und Klimaneutralität sind nur zu schaffen, wenn dieser Prozess gesamtheitlich gedacht wird – auch im globalen Kontext. Gerade vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs werden diese internationalen Zusammenhänge deutlich: Die Brücke Erdgas wird kürzer und teurer als geplant, zugleich ist Wasserstoff noch nicht im erforderlichen Maße verfügbar. Der Ausbau der erneuerbaren Energien gewinnt somit an weiterer Bedeutung – auch wenn er noch von verschiedenen Hürden ausgebremst wird, für deren Bewältigung es jedoch bereits Konzepte gibt, die es nun anzuwenden gelte.

Weg von der Kommunikation der Gleichen mit den Gleichen, hin zu einem generationenübergreifenden Austausch auf Augenhöhe

In der finalen Diskussionsrunde debattierten Gerald Haug (Präsident der Leopoldina), Christoph Markschies (Präsident Akademienunion), Dirk Uwe Sauer (acatech Präsidium, ESYS-Direktorium und RWTH Aachen) und Julian Hirschmann (LCOY – Local Conference of Youth) die Rolle von Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation in der Energiewende.
Es zeigte sich, dass klassische Formen der Wissenschaftskommunikation angesichts der Größe der Aufgaben an ihre Grenzen stoßen. Zusammenhänge und Veränderungen im Leben der Bürger*innen werden nur nachvollziehbar, wenn sie verständlich kommuniziert werden. Dabei sollten diese nicht nur als Verzichtsmaßnahmen beschrieben, sondern auch in ihren positiven Seiten gezeigt werden – und dies generationenübergreifend und in Formaten, die über Scheinbeteiligung hinweggehen.

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