Kostenfreier Nahverkehr – schöne Idee, aber kann das klappen?

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Gratis Bus und Bahn fahren böte theoretisch viele Vorteile – der Stadtverkehr würde entlastet, die Schadstoffbelastung verringert, und die Emissionen im Verkehr würden endlich sinken. Was auf den ersten Blick wie eine elegante und effiziente Lösung klingt, wirft beim genaueren Hinsehen viele Fragen auf: Welche Kosten würden dadurch entstehen, und ist das Strecken- und Schienennetz überhaupt dafür ausgelegt? Die Verkehrsforscherin Barbara Lenz hat untersucht, wie viele Autofahrer tatsächlich auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) umsteigen würden, wenn er gratis wäre – und welche Folgen das hätte. Der Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg Ulrich Maly will den ÖPNV stärken. Kostenlos könne er jedoch nur sein, wenn der Bund seinen finanziellen Beitrag zum Nahverkehr leiste. Die Finanzierung des Ausbaus müsse immer gewährleistet sein.


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„Ein kostenloser Nahverkehr würde die Städte nicht entlasten.“


Den öffentlichen Verkehr allen Bürgern als kostenlose Dienstleistung zur Verfügung zu stellen, scheint auf den ersten Blick eine naheliegende Lösung zu sein, um die Städte vom wachsenden Autoverkehr zu entlasten und die damit verbundenen Probleme – allen voran die Emission von Luftschadstoffen, Lärm und CO2 – zumindest zu verringern. Als bereits vorhandenes und in vielen Städten gut ausgebautes Verkehrsangebot könnte der ÖPNV, so die Erwartungen, spürbar dazu beitragen, um den Umfang an motorisiertem Individualverkehr auf der Straße zu reduzieren. Aber kann der öffentliche Verkehr das überhaupt leisten? Und was bedeutet es, wenn die Kosten für den Fahrschein als Hürde für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs wegfallen?

Die Konkurrenz zwischen ÖPNV und Auto ist ein Klassiker in der Verkehrs- und Mobilitätsforschung, die den Gründen für Entscheidungen bei der Verkehrsmittelwahl nachgeht. Das Auto ist in der Mehrzahl der Fälle der Gewinner: Es liefert ein 24/7-Mobilitätsversprechen, indem es quasi immer zur Verfügung steht und seine Nutzer (in der Mehrzahl der Fälle) von Tür zu Tür bringt. Und mit dem Auto ist man meist schneller als mit dem Bus oder der Straßenbahn. Jüngere Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Differenz in den meisten Städten in Deutschland tatsächlich so vorhanden ist.

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  • Barbara Lenz
  • Institut für Verkehrsforschung am DLR

Die Wirtschaftsgeografin leitet das Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Sie beschäftigt sich mit dem Mobilitätsverhalten, der Vernetzung der Verkehrsträger sowie dem autonomen Fahren. Im Projekt ESYS hat sie in der Arbeitsgruppe „Pfadabhängigkeiten im Verkehrssektor“ mitgewirkt.

Für die Verkehrsmittelwahl spielen aber nicht nur die Kosten eine wesentliche Rolle, sondern auch der Zeitaufwand im Vergleich zwischen den Verkehrsmitteln. Zusätzlich beeinflussende Faktoren sind beispielsweise der Komfort oder das Sicherheitsgefühl. Legt man nun die Zeit- und Fahrtkosten im ÖPNV als wesentliche Einflussgröße auf die Verkehrsmittelwahl zugrunde, lässt sich rechnerisch abschätzen, wie hoch die Umsteigequote vom Auto auf den öffentlichen Verkehr ausfallen könnte, wenn dieser kostenlos wäre, und welche Ansprüche daraus an den öffentlichen Verkehr resultieren würden. Am DLR Institut für Verkehrsforschung in Berlin-Adlershof sind wir dieser Frage nachgegangen und haben ermittelt, dass im Durchschnitt über alle deutschen Städte hinweg etwa 6 Prozent der heutigen Fahrten mit dem Auto dann mit dem kostenlosen öffentlichen Verkehr durchgeführt würden. Dieser Wert mag zunächst nicht allzu hoch erscheinen. Er bedeutet allerdings, dass die Verkehrsleistung des öffentlichen Verkehrs um 90 Prozent steigen würde. Für die kommunalen und regionalen Betreiber zöge das die Notwendigkeit zu massiven Investitionen nach sich. Der Grund: Die zusätzliche Nachfrage würde sich nicht gleichmäßig über den Tag verteilen, sondern vor allem in den Hauptverkehrszeiten anfallen, also besonders in den Morgenstunden und am späteren Nachmittag. Die Nachfrage würde sich verdoppeln – das heißt: eine massive Zunahme der Nachfrage entstünde ausgerechnet zu den Zeiten, in denen die Züge, Bahnen und Busse ohnehin voll sind. Gleichzeitig müssten die öffentlichen Betreiber mit einem Einnahmenausfall in Höhe von rund 12 Milliarden Euro zurechtkommen.

Den öffentlichen Verkehr grundsätzlich als kostenlose Dienstleistung anzubieten, erscheint vor diesem Hintergrund allenfalls bedingt empfehlenswert. Eine denkbare Variante könnte das kostenlose Fahren in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu sogenannten Schwachlastzeiten sein, also in den Stunden, zu denen eher wenige Menschen den ÖPNV benutzen. Notwendig wäre dann allerdings ein System, das Kontrollmöglichkeiten für die kostenpflichtigen Zeiten schafft und ein Informationssystem bereithält, das die Nutzer transparent und zuverlässig darüber informiert, wann eine Fahrt zu bezahlen ist und wann nicht. Eine spürbare Entlastung der Städte vor allem dann, wenn es besonders dringlich ist, ließe sich auf diesem Weg jedoch kaum erreichen.

„Gratis Bus und Bahn kann nur dann funktionieren, wenn der Bund mehr Kosten trägt.“


Als der Vorschlag der Bundesregierung eines kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) an Fasching 2018 öffentlich wurde, dachte ich zunächst, es könnte sich um einen Scherz handeln, da sich gerade der Bund in den letzten Jahren immer mehr aus der Finanzierung des ÖPNV herausgezogen hat. Dennoch habe ich mich mit dem Vorschlag auseinandergesetzt, auch wenn Nürnberg darüber nicht allein entscheiden könnte, sondern eine Regelung im Verkehrsverbund erforderlich wäre.

Auf den ersten Blick erscheint die Idee reizvoll, könnte dies doch sehr viele Bürgerinnen und Bürger zum Umstieg auf Busse und Bahnen bewegen und dazu beitragen, die Lärm- und Schadstoffbelastung in Nürnberg zu reduzieren.

Doch auf den zweiten Blick ist ein Nahverkehr zum Nulltarif mit etlichen Problemen verbunden. Ein qualitativ hochwertiges ÖPNV-Angebot kostet: Busse und Bahnen sollen in kurzem Takt fahren, das Netz soll dicht sein, die Fahrzeuge sollen sauber und bequem sein, dazu klimatisiert und am besten noch mit WLAN ausgestattet. Das Personal soll aber auch anständigen Lohn erhalten. Das alles kann nicht vollständig über den Ticketverkauf finanziert werden. Zudem gibt es einen erheblichen Investitionsstau. Unsere U-Bahnanlagen sind in die Jahre gekommen und müssen erneuert werden, gleiches gilt für die Fahrzeuge. Außerdem wollen wir als wachsende Stadt das Schienennetz weiter ausbauen, etwa eine U-Bahnlinie an die Stadtgrenze zu unseren Fürther Nachbarn oder die Straßenbahn Richtung Erlangen sowie in den Nürnberger Süden. Die Linienbusse sollen sukzessive auf alternative Antriebe umgestellt werden. Wir müssen also viel Geld in die Hand nehmen, um unseren Nahverkehr auch stadtgrenzüberschreitend fit zu machen. 

Ulrich Maly

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  • Ulrich Maly
  • Stadt Nürnberg

Der promovierte Volkswirt ist seit 2002 Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg und derzeit Vizepräsident des Deutschen Städtetages.

Ein kostenloser ÖPNV würde jedoch weitere Fragen aufwerfen: Wie können die zusätzlichen Fahrgäste befördert werden, wenn schon heute im morgendlichen Berufsverkehr die Kapazitätsgrenzen erreicht sind – trotz einer autonomen (sprich fahrerlosen) U-Bahn, die wir seit zehn Jahren haben? Ein dichterer Takt im Schienennahverkehr erfordert mehr Fahrzeuge und mehr Personal. Und auf vielen S-Bahnstrecken fehlt die notwendige Infrastruktur, um den Takt wesentlich erhöhen zu können.

Daher benötigt der gesamte öffentliche Nahverkehr dringend eine bessere Grundfinanzierung sowohl der Investitionen als auch der laufenden Betriebskosten durch Bund und Land. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn es uns gelänge, dadurch die Spirale der jährlichen Tariferhöhungen durchbrechen zu können.

Ich bin überzeugt, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger auch bereit sind, einen angemessenen Preis für den ÖPNV zu zahlen, wenn die Qualität stimmt. Daran arbeiten wir intensiv. Da alle von einem guten ÖPNV-Angebot profitieren, sehe ich jedoch auch die Gesellschaft in der Pflicht, einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung zu leisten. Schließlich entlastet jeder Fahrgast die Straßen und sorgt dafür, dass der notwendige Kraftfahrzeugverkehr abgewickelt werden kann. Ein gut genutzter ÖPNV macht die Stadt lebenswerter. Und das wichtigste: Der ÖPNV ist das sozialste Fortbewegungsmittel, weil es jede und jeder nutzen kann.

Auch deswegen werden wir weiterhin mit Nachdruck einfordern, dass der Bund seinen finanziellen Beitrag zum Nahverkehr leistet – und zwar nicht nur mit dem Bundesprogramm für die Investitionen, sondern mit dauerhafter Beteiligung an den Betriebsdefiziten. Dies gilt erst recht, wenn die Bundesregierung Maßnahmen vorschlägt, die in den Kommunen umgesetzt werden sollen. Erst eine konkrete Finanzierungszusage könnte mich davon überzeugen, dass der Vorschlag eines kostenlosen ÖPNV wirklich ernst gemeint ist.

ESYS-Debatte I September 2018