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Erneuerbare schlagen Atomstrom

13. Mai 2019

Atomstrom ist zwar CO2-arm, aber in vielen Ländern politisch umstritten. Außerdem sind Neubauten von Kernkraftwerken in Ländern mit liberalisierten Strommärkten schon heute kaum noch wirtschaftlich. Warum CO2-freier Strom kostengünstiger mit erneuerbaren Energien produziert werden kann, erklärt ESYS-Sprecher Dirk Uwe Sauer (RWTH Aachen) in seinem Standpunkt für den Tagesspiegel.

Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel sowie im Tagesspiegel Background Energie & Klima.

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„Strom aus Erneuerbaren mit Speichern ist deutlich günstiger als aus Kernenergie“

Welchen Beitrag leistet Kernenergie zur Energieversorgung der Zukunft? Darüber wird leidenschaftlich diskutiert. Befürworter verweisen auf die nahezu CO2-freie und damit klimafreundliche Stromerzeugung, Kritiker betonen die Risiken der Atomkraftwerke (AKW) und die unabsehbaren Ewigkeitskosten der Atommülllagerung. Aber der wesentliche Grund, warum der Anteil der Stromerzeugung aus Kernenergie rückläufig ist, ist ein anderer. Die Energiewirtschaft hat in Ländern mit liberalisierten Strommärkten – also dort, wo Unternehmen die Kraftwerke ohne staatliche Unterstützung und Absicherung betreiben müssen – längst ihr Urteil über die Kernkraft gefällt. Seit vielen Jahren werden dort kaum noch neue Kernkraftwerke gebaut, laufende Bauarbeiten abgebrochen oder alte Anlagen wegen Unwirtschaftlichkeit abgeschaltet. Das gilt etwa für die USA und ist kaum Folge einer Anti-Kernkraftbewegung.

Kernkraftwerke waren schon immer eine Technologie hoher Investitions- und geringer Betriebskosten. Im Gegensatz dazu haben Gaskraftwerke Investitionskosten, die etwa um den Faktor 10 geringer sind. Dafür sind die Brennstoffkosten für Gas hoch. Dementsprechend werden AKW traditionell als Grundlastkraftwerke mit 7000 bis 8000 Volllaststunden im Jahr betrieben, während Gaskraftwerke flexibel zur Deckung von Spitzenlasten mit eher 1000 bis 2000 Volllaststunden im Jahr laufen.

Der wirtschaftliche Druck auf AKW weltweit kommt aus verschiedenen Richtungen: Die Investitionskosten der Anlagen sind hoch und die Planungs-, Genehmigungs- und Bauzeiten lang. Gründe sind die hohen Sicherheitsstandards, die komplexe Technologie und die kleine Zahl an Unternehmen, die weltweit noch in der Lage ist, AKW zu bauen. Daraus resultieren in freien Strommärkten erhebliche wirtschaftliche Risiken.

USA haben mehrere AKW vom Netz genommen
Vom Beginn der Planung eines AKW bis zu dessen Abschreibung vergehen mindestens 40 Jahre. Über die Zeit bleiben deren Stromgestehungskosten weitgehend konstant. Neue Anlagen zur Erzeugung von grünem Strom, die sich flexibel und schnell errichten lassen, werden dagegen immer günstiger. Das Absatzrisiko steigt also weiter und es müssen hohe Risikoaufschläge bei der Finanzierung in Kauf genommen werden. Aufgrund der zuletzt stark gesunkenen Kosten für erneuerbare Energien haben beispielsweise die USA in den letzten fünf Jahren eine Reihe von AKW wegen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit vom Netz genommen. Nur zwei Kraftwerksblöcke befinden sich aktuell im Bau. An vielen US-amerikanischen Standorten ist die Stromerzeugung aus Wind und Sonne günstiger als alle anderen Technologien.

Noch komplizierter wird die Situation durch den Marktmechanismus der Strombörsen. Gekauft wird dort jeweils der Strom, der die geringsten marginalen Kosten hat. Diese werden vor allem durch die Brennstoffkosten bestimmt. Da für Wind- und Photovoltaikanlagen keine Brennstoffe anfallen, wird deren Strom bevorzugt gekauft. Stetig steigende Anteile der Erneuerbaren führen dazu, dass die Grundlastkraftwerke – in Deutschland sind das AKW und Braunkohlekraftwerke – immer häufiger zurückgefahren werden. Je mehr erneuerbare Energien ausgebaut werden, desto seltener laufen Grundlastkraftwerke und desto weniger refinanzieren sich deren Baukosten. Daher werden auch neue AKW-Typen – sogenannte „AKW der 4. Generation“ – als Technologie mit hohen Investitionskosten im zukünftigen Energiemarkt kaum wirtschaftlich sein. Stattdessen müssen Wind- und Solaranlagen durch flexible Gaskraftwerke ergänzt werden.

Zusätzliche wirtschaftliche Risiken entstehen durch die Kosten für die Endlagerung der radioaktiven Abfälle oder Unfälle. Die Wissenschaft tut sich schwer damit, diese Kosten und Risiken klar zu beziffern. Daher variieren in Studien die Vollkosten für Strom aus AKW sehr stark.

AKW Flamanville: Kosten haben sich verdreifacht
Im Gegensatz zum Neubau von Atomkraftwerken ist die Logik beim Weiterbetrieb bestehender Anlagen eine andere. Ist ein Kernkraftwerk erst gebaut, wird jeder Betreiber versuchen, die Anlage so lange wie möglich laufen zu lassen. Dementsprechend ist zum Beispiel Japan bemüht, die nach der Katastrophe von Fukushima abgeschalteten AKW wieder ans Netz zu bringen. Frankreich arbeitet intensiv an der Verlängerung von Kernkraftwerken über die ursprünglich geplante Laufzeit von 40 Jahren hinaus und in den USA sind die Lizenzen vieler Anlagen auf 60 Jahre verlängert worden. Das ist nur so lange wirtschaftlich, wie Nachrüstkosten für Technik und Sicherheit den erwarteten Ertrag in der Extralaufzeit nicht überschreiten.

Bleibt die Frage, warum trotz allem etwa in Flamanville in Frankreich, in Olkiluoto in Finnland und in Hinkley Point C in Großbritannien dennoch neue AKW gebaut werden. Der Neubau in Flamanville startete 2007, eine Inbetriebnahme wird für 2020 erwartet. Die Kosten haben sich gegenüber dem Plan mehr als verdreifacht, die Stromgestehungskosten werden über zehn Cent pro Kilowattstunde liegen. Die Risiken trägt der französische Staat als Mehrheitseigner am Kraftwerksbetreiber EDV und am Kraftwerksbauer Areva.

Bei Baubeginn des AKW in Olkiluoto im Jahr 2005 rechneten die Finnen mit Kosten von rund drei Milliarden Euro und einer Bauzeit von etwa fünf Jahren. Schon jetzt haben sich Kosten und Bauzeit jeweils verdreifacht. Die Betreiber haben hier das Glück, einen Festpreis mit den Anlagenbauern vereinbart zu haben. Die Risiken liegen also vor allem beim französischen Staat. Für die britischen Anlagen in Hinkley Point C wurde den Betreibern von der Regierung eine garantierte Einspeisevergütung von etwa 10,8 Cent pro Kilowattstunde mit Steigerung entsprechend des Preisindexes über 35 Jahre zugesichert. Zum Vergleich: Die letzte Ausschreibung für Photovoltaikanlagen auf Freiflächen in Deutschland hat im Mittel einen Vergütungsbedarf von 4,8 Cent pro Kilowattstunde über 20 Jahre ergeben. Zwar müssen den Kosten für erneuerbare Energien zusätzliche Kosten für Speicher und Netze zugerechnet werden. Studien zeigen aber, dass auch mit diesen Zusatzkosten regenerativ erzeugter Strom deutlich günstiger ist als Atomstrom.

Verbreitung von Kernwaffen
Über die Motivation zum Neubau von Kernkraftwerken beispielsweise in der Türkei, in Ägypten oder den Vereinigten Arabischen Emiraten kann nur gemutmaßt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht ist klar, dass der Grund nicht die Sicherstellung einer kostengünstigen Stromversorgung sein kann. Die Stromerzeugung aus Erneuerbaren, auch unter Berücksichtigung der zusätzlichen Systemkosten, ist in diesen Ländern viel günstiger und garantiert Unabhängigkeit. In China, Indien und Russland, den Ländern mit den meisten im Bau befindlichen AKW, werden die Anlagen überwiegend von Staatsunternehmen betrieben.

Ein weiterer wichtiger Grund, aus der zivilen Nutzung der Kernenergie auszusteigen, ist die Verbreitung von Kernwaffen. Es wird nicht gelingen, die Proliferation von kerntechnischen Anlagen und Material zu verhindern, solange Kernenergie weiter genutzt wird. Mit welchem moralischen Recht ließe sich die zivile Nutzung der Kernenergie in einigen Ländern verbieten, wenn andere Staaten dieses Recht für sich weiter in Anspruch nehmen? Das Ende der Verbreitung von Atomwaffen in staatlicher oder nichtstaatlicher Kontrolle wird erst mit dem Ende der Kernenergienutzung möglich.

Bereits heute kann CO2-freier Strom kostengünstiger mit erneuerbaren Energien als mit AKW-Neubauten erzeugt werden. Technologien für Speicher und Netze stehen bereit, um eine zuverlässige Stromversorgung zu garantieren. Forschung und Entwicklung werden zu weiter sinkenden Kosten und steigenden Wirkungsgraden führen. Auch wenn Deutschland heute einen Rückzug vom Ausstieg aus der Atomkraft beschließen würde, würde sich wohl kein Unternehmen finden, dass ohne staatliche Absicherung in ein neues AKW investiert.

Der Autor ist Professor am Lehrstuhl für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik der RWTH Aachen und leitet das Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS).

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