Stephan Rieke (EXYTRON GmbH), Dr. Jens Kanacher (innogy SE) und Prof. Dr. Ulrich Wagner (TU München) (v.l.n.r.) im Dialog mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von MdBs sowie Fraktionsreferentinnen und -referenten © acatech/Witte

Überschuss-Strom sinnvoll für die Energiewende nutzen

20. Juni 2018

Die schwankende Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien führt zeitweise dazu, dass regional mehr Strom erzeugt wird als notwendig. Wann fällt dieser Überschuss-Strom an und welche konkreten Möglichkeiten gibt es, ihn sinnvoll für die Energiewende zu nutzen? Darüber diskutierten Experten aus Forschung und Unternehmen am 19. Juni mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Bundestagsabgeordneten sowie Fraktionsreferentinnen und -referenten. Das Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) hatte zur neuen Veranstaltung „Energie.Wende.Punkte.“ im Deutschen Bundestag geladen.

Durch den steigenden Ausbau von Wind- und Photovoltaikanlagen wird es künftig zunehmend Zeiten geben, in denen mehr Strom produziert als nachgefragt wird. Allein im vergangenen Jahr wurden etwa 5,5 Terawattstunden Strom wegen lokaler Netzengpässe abgeregelt. Dabei gibt es viele Möglichkeiten, überschüssigen Strom aktiv zu verwenden statt Windräder und Solaranlagen bei Überlastung auszuschalten. Doch wo und wann fällt Überschuss-Strom an? Wie kann er die Energiewende vorantreiben, und welche Lösungen sind auch im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher? Im Rahmen der neuen ESYS-Veranstaltungsreihe „Energie.Wende.Punkte.“ tauschten sich Fachleute aus Wissenschaft und Wirtschaft mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Mitgliedern des Deutschen Bundestages (MdBs) und Fraktionsreferentinnen und -referenten über diese Fragen aus.

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Europäischer Stromhandel schafft mehr Flexibilität

ESYS-Mitglied Ulrich Wagner, Inhaber des Lehrstuhls für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik an der Technischen Universität München, erklärte, dass es Überschuss-Strom physikalisch gar nicht geben kann. Vielmehr handle es sich um Prognoseabweichungen bei der regenerativen Stromerzeugung und im Stromverbrauch. Diese Abweichungen lassen sich etwa durch steuerbare konventionelle Kraftwerke, die Abregelung von Strom aus regenerativen Quellen, Speicher, eine Laststeuerung beim Verbraucher oder durch Power-to-X-Anlagen ausgleichen. Wichtig sei außerdem der Import und Export von Strom. „Wir müssen viel stärker europäisch denken, denn Strom, der etwa in Deutschland zu viel produziert wird, ersetzt die Stromerzeugung in unseren Nachbarländern und umgekehrt“, erklärte Ulrich Wagner. Das ambitionierte Ziel einer weitgehend regenerativen Stromerzeugung erfordere ein hochflexibles, europäisch koordiniertes Stromsystem. Zukünftig müssten Erzeuger, Netzbetreiber und Verbraucher miteinander verhandeln und neue Geschäftsmodelle entwickeln.

Wie man Überschuss-Strom sinnvoll einsetzen kann, veranschaulichte Jens Kanacher, Leiter des Kompetenzzentrums für Energiesysteme und Speicher bei der innogy SE. Eine Möglichkeit besteht darin, überschüssigen Strom durch Netzausbau einer existierenden Nachfrage zuzuführen oder ihn zur späteren Nutzung zu speichern. Außerdem könne Überschuss-Strom bisherige Systemelemente ergänzen – etwa durch Heizstäbe in bestehenden Heizsystemen – oder sogar ersetzen; beispielsweise durch mit grünem Strom betriebene Wärmepumpen anstelle von Gasheizungen oder Elektrofahrzeuge anstelle von Verbrennerfahrzeugen. Wie verlässlich die dafür notwendigen Strommengen verfügbar sind, hänge stark vom Wetter, aber noch mehr vom gewählten Systemdesign ab. „Tauscht Deutschland Strom mit seinen europäischen Nachbarn aus und importiert regenerativ erzeugte Brennstoffe, entstehen deutlich weniger Überschüsse. In der Folge müssten weniger Speicher, Windkraft- und Solaranlagen gebaut werden“, schilderte Kanacher.

Stephan Rieke, Leiter des technischen Vertriebs der EXYTRON GmbH, ging auf die Sektorkopplung und damit verbundene Geschäftsmodelle zur Nutzung des Überschuss-Stroms ein. Würde man Strom- und Gasnetze kombinieren, könnten Power-to-Gas-Technologien flexibel genutzt werden, um den Mobilitätssektor klimafreundlicher zu gestalten. Im Schwerlast- und Schiffsverkehr sowie auf der Langstrecke könnten beispielsweise synthetisches Erdgas oder synthetische Kraftstoffe eingesetzt werden. Anlagen zur Herstellung dieser Stoffe haben jedoch lange Vorlaufzeiten – daher sollten zeitnah Entscheidungen für neue Technologien getroffen werden. Als zentrales Steuerungselement empfahl Stephan Rieke einen einheitlichen CO2-Preis. Dadurch würden die Kosten in den einzelnen Energiesektoren transparenter, und klimaschonende Technologien könnten sich etablieren.

In der Diskussion mit den MdB-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsreferentinnen und -referenten ging es unter anderem um die Frage, ob und wie europäisch einheitliche Regelungen umgesetzt werden könnten. Alle Redner waren sich einig, dass EU-weit geltende Lösungen der Idealfall seien. Da diese jedoch teilweise auf Widerstände stoßen, brauche es ergänzende nationale Instrumente oder Allianzen mit Ländern wie Frankreich. Die Teilnehmenden der Veranstaltung sprachen sich außerdem für systemische Lösungen aus, die auch die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher berücksichtigen. So müssten etwa mögliche Einsparpotenziale durch neue Technologien pro Kopf betrachtet werden – oft seien die Einsparungen pro Person so gering, dass sie keine Verhaltensänderungen bei Bürgerinnen und Bürgern auslösen.

Neue ESYS-Veranstaltungsreihe

Mit der neuen Veranstaltungsreihe „Energie.Wende.Punkte.“ richtet sich ESYS gezielt an wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Mitgliedern des Deutschen Bundestages (MdBs) sowie an Fraktionsreferentinnen und -referenten. Ziel ist es, in Vorträgen und Diskussionsrunden fundiertes Wissen zu aktuellen Themen der Energiepolitik und Energiewirtschaft bereitzustellen.

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