Blockchain - zwischen Hoffnung und Hype

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Blockchain ist seit einiger Zeit der Aufreger in der Energiewirtschaft. Die Fans dieses digitalen Internetprotokolls träumen schon von einer dezentralen Energiezukunft, in der die Balkon-Solaranlage eines Mieters ihren Ökostrom gegen Bitcoins an den Toaster des Nachbarn verkauft – ganz ohne Zwischenhändler und andere Intermediäre. Doch kann man den Handel mit Energie tatsächlich einem vollautomatisch agierenden Transaktionsnetzwerk überlassen, ohne dass eine zentrale Instanz über die Versorgungssicherheit wacht? Karl-Heinz Remmers ist davon überzeugt, Sebastian Lehnhoff sieht noch offene Fragen.


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„Blockchain hat das Potenzial, die Gesellschaft umzukrempeln“


Stromhandel 4.0: Wer Strom kaufen oder verkaufen will, tut das über ein verschlüsseltes Computernetzwerk und zahlt mit der Digitalwährung Bitcoin. Per Smartphone kann man zum Beispiel aus der Berliner U-Bahn den Solarstrom vom Dach des Nachbarn ordern. Oder, wie es die Firma Bankymoon heute schon beeindruckend vormacht, als Spende den Prepaid-Smart-Meter einer Schule in Südafrika mit Bitcoins aufladen. In beiden Fällen wickeln die Maschinen die Transaktionen direkt und gleichberechtigt (Peer-to-Peer) als Smart Contracts miteinander ab. Und obwohl die Beteiligten dabei anonym bleiben können, werden alle Transaktionen unveränderbar aufgezeichnet, einsehbar für alle. Der Strom vom Nachbardach kommt aus der Steckdose; in Südafrika geht verlässlich das Licht an; die Spenderin in Berlin-Mitte weiß genau, wo ihre Mittel hingehen und kennt die exakten Kosten der Übermittlung.

Hinter dem Stromhandel 4.0 steht die Blockchain-Technologie: ein dezentrales Internetprotokoll, welches das Netzwerk des „Weltcomputers“ nutzt. Schließlich verbindet das Internet schon heute Milliarden Nutzer und Geräte. Mit Hilfe der Blockchain kann jeder Rechner mit jedem anderen in Interaktion treten, um Transaktionen direkt abzuwickeln. Dabei sind alle Computer auf Augenhöhe, können Dienste in Anspruch nehmen und zur Verfügung stellen – beliebig anonym und auf immer neuen Verbindungen rund um den Globus. Fällt eine Verbindung oder ein Knoten aus, kann jeder einzelne Rechner die Informationen erneut bereitstellen. Solange tatsächlich alles transparent aufgezeichnet wird, ist das System ist also nicht zu manipulieren.

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  • Karl-Heinz Remmers
  • Solarpraxis Neue Energiewelt AG

Der Ingenieur Karl-Heinz Remmers ist Gründungsmitglied und seit 2006 Vorsitzender der Solarpraxis Neue Energiewelt AG (ehemals Solarpraxis AG), einem Anbieter von Branchentreffs und Produkten für die Energiewirtschaft.  Zu seinen Schwerpunktthemen zählen Blockchain, der Netzumbau und die Digitalisierung der Energieversorgung.

Dezentral, digital – und in Bürgerhand?

Wegen der geringen Transaktionskosten und einfachen Abrechnungsprozesse eignet sich die Blockchain schon heute für die Vermarktung kleinster Strommengen. Gleiches gilt für Mieterstrommodelle und kleine Bürgerenergieanlagen, bei denen viele Akteure koordiniert werden müssen. Schon bald werden verbesserte Prüf- und Speicherprozesse aber auch große Transaktionen in Millionenhöhe zu sehr geringen Kosten ermöglichen. Betriebssysteme wie Ethereum erlauben es allen, ihre jeweiligen Anwendungen aufzuzeichnen. Den einzelnen „Wegabschnitten“ könnten dann Nutzungspreise zugeordnet werden, um dezentrale Stromerzeugung und -verbrauch von Millionen Akteuren exakt zu bestimmen und automatisiert abzurechnen.

Banken und Zwischenhändler werden im Zeitalter der Blockchain nicht mehr gebraucht. Schon heute können einzelne Entwickler digitale Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften bilden und quasi als „One-Man-Show“ alle bisher extrem aufwändigen Peer-to-Peer-Stromideen großer Konzerne überholen und unterbieten. Für die Blockchain-Abrechnung etwa der Strom-DAO, einer Art „Anbieter- und Einkaufsgemeinschaft für Strom“, braucht es nur noch einen Algorithmus und keine Werbe- oder Abrechnungsabteilungen mehr.

Mit der Vernetzung, Speicherung und Transparenz automatisierter Kommunikation der Maschinen untereinander hat die Blockchain das Potenzial, nahezu jeden Bereich der Gesellschaft umzukrempeln. Mit der Zeit wird völlig neues Erfahrungswissen entstehen, in der Datenverarbeitung selbst, aber auch bei den Nutzern direkt. Das könnte auch für staatliche Aufgaben wie die Grundbuch- oder Steuerverwaltung  taugen. Und so klingt einer der Claims der Blockchain-Bewegung denn auch wie „Regierung ohne Politiker“. Für alle, die an dezentrales Wirtschaften und die Entwicklungsfähigkeit von Demokratie glauben, verspricht die Blockchain-Zukunft ebenso paradiesische Zustände wie für jene, die auf Technik und Kosteneffizienz setzen. Die Entwicklung schreitet schon jetzt atemberaubend schnell voran und wird gerade in einer echten dezentralen Energiewelt rasant weiter gehen – und wenn die Bürger es wollen, von ihnen selbst kontrolliert und bestimmt.

„Im schlimmsten Fall geht irgendwann das Licht aus“


Als Energieinformatiker mit einem Hintergrund im Bereich verteilter Transaktionssysteme kann ich gar nicht anders: Blockchain fasziniert mich. Denn die Möglichkeit, Transaktionen Peer-to-Peer sicher und nachvollziehbar ohne zentralen Broker abzuwickeln, hat enormes Potenzial für neue Dienstleistungen. Nicht unbedingt, um existierende Transaktions- und Vertriebsmodelle zu ersetzen oder zu dezentralisieren, sondern eher dort, wo es heute – auch aus regulatorischen Gründen – noch gar keine Vertriebssysteme gibt. Ich denke da zum Beispiel an integrierte Smart-City-Konzepte, bei denen Mobilitäts-, Energie- und Gesundheitsdienstleistungen mit- und gegeneinander gehandelt werden könnten, nach dem Prinzip: „Tausche Wärme gegen Strom und Strom gegen Mobilität“. 

Aber: Der Stromhandel schließt ja auch physikalische Transaktionen über reale Infrastrukturen mit ein, die immer öfter mit Kapazitätsengpässen fertig werden müssen – zentral und in Echtzeit in einem sicherheitskritischen System. Energiehandel und -versorgungsbetrieb haben daher spezifische Anforderungen an Skalierbarkeit, Echtzeitfähigkeit und Sicherheit. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu virtuellen Finanztransaktionssystemen auf Blockchain-Basis mit Bitcoins und Co. Es kann also passieren, dass Energietransaktionen über Blockchain eben wegen Engpässen oder Prognoseabweichungen nicht realisiert werden können. Sie könnten zwar nachträglich rückabgewickelt oder korrigiert werden. Es besteht aber die Gefahr, dass Instabilitäten oder gar Versorgungsengpässe nicht rechtzeitig erkannt werden, weil ein zentraler Broker oder eine Clearingstelle fehlen – im schlimmsten Fall bis es zu spät ist und das Licht ausgeht. Eine genaue Analyse, ob und inwieweit verschiedene Blockchain-Varianten diese Anforderungen erfüllen und zuverlässig in das Energiesystem eingebettet werden können, steht noch aus.

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  • Sebastian Lehnhoff
  • OFFIS – Institut für Informatik

Der Energieinformatiker Sebastian Lehnhoff ist Vorstandsmitglied von OFFIS und Bereichsvorstand für Energie. Er beschäftigt sich vor allem mit intelligenten Stromnetzen (Smart Grids) und lehrt Energieinformatik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Im Akademienprojekt ESYS hat er in der Arbeitsgruppe „Risiko und Resilienz“ mitgewirkt.

Goldgräberstimmung bei den Pionieren

Weiteres Potenzial für die Blockchain sehe ich im Energiebereich bei Themen wie Herkunftsnachweisen (welcher Strom kommt eigentlich aus meiner Steckdose?), CSR-Reportings und „Grünstromzertifikaten“, mit denen die Energieversorger belegen, welchen Strom sie liefern. Ein transparentes, automatisiert auswertbares Transaktionssystem wie die Blockchain wäre schon jetzt leistungsfähiger und flexibler als gängige Prozessstandards auf Basis von EDIFACT, dem internationalen Standard für elektronische Daten im Geschäftsverkehr.  

In jedem Fall ist Blockchain ein Hype und es herrscht eine regelrechte Goldgräberstimmung. Die Begeisterung rührt sicher auch daher, dass vor allem an dezentralen Energieversorgungsformen Interessierte schon lange auf einfache Serviceplattformen für neue Energiewende-Geschäftsmodelle warten. Sie hoffen quasi auf „Killer-Apps“, die der Nach-Energiewende-Zeit zum Durchbruch verhelfen. Die Blockchain als vielfach erprobtes und sicheres System für kleinteilige dezentrale Transaktionen mit niedriger Einstiegshürde weckt die Hoffnung, dass dieser Wunsch Wirklichkeit werden kann. Sollte sich die Hoffnung von der Blockchain als disruptive Technologie für die Energiewirtschaft erfüllen, würde sich jedenfalls verändern, wer in diesem System das Geld verdient. Vermutlich wären es nicht die großen Player von heute, die das Geschäftsfeld als erste erschließen – mit deutlichem Einfluss auf energiewirtschaftliche, regulierte Rollen.

ESYS-Debatte I Mai 2017